Hannes Hofbauer am 12.12.2025:"Ukraine" heißt "Grenzland"

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Hannes Hofbauer: |
Wir wollen mit dem Kampf um die Ukraine beginnen, dem – wie schon der Name sagt – Grenzland zwischen Ost und West. Er weist eine lange Geschichte auf. Die erste große Konfrontation spaltete die orthodoxe Bevölkerung von Polen-Litauen, die im 16. Jahrhundert vom heutigen Weißrussland im Westen bis zur Dnjepr-Insel Chortyzija bei Saporoschschja im Osten lebte. Von Rom entsandte Jesuiten predigten gegen die „Ungläubigen“ des Moskauer Patriarchats und bauten jenen Druck auf, der mithilfe des polnischen Adels im Jahr 1596 zur „Union von Brest“ führte. Mit diesem Vertrag unterwarfen sich orthodoxe Priester mitsamt den ihnen anvertrauten Seelen und Kirchenhäusern dem Recht der katholischen Kirche. Die orthodoxe Liturgie durfte beibehalten werden, der Papst in Rom bestimmte aber fürderhin über Priesterschaft und Kirchengüter. Griechisch-katholisch bzw. uniert nannte man in den folgenden Jahrhunderten die Christen im Westen der späteren Ukraine. Volksaufstände gegen die polnische Herrschaft und die aufoktroyierte Kirchenunion gipfelten im Kosaken-Hetmanat des Bogdan Chmelnizkij in der Mitte des 17. Jahrhunderts.
Bis zur ersten modernen ukrainischen Staatlichkeit sollten noch 250 Jahre vergehen. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges überstürzten sich die Ereignisse. Die Februar-Revolution von 1917 fegte die zaristische Herrschaft hinweg, die im Westen bis an die habsburgischen Kronländer Galizien und Bukowina reichte. In Kiew bildete sich sogleich eine Zentralna Rada (Zentralrat), die am 12. Januar 1918 die „Ukrainische Volksrepublik“ als unabhängigen Staat ausrief. Ein Monat zuvor, am 12. Dezember 1917, wurde in der Arbeiterhochburg Charkow/Charkiw die Gründungsurkunde der „Ukrainischen Sowjetrepublik“ unterzeichnet. Damit standen einander Volksrepublik und Sowjetrepublik gegenüber. Beide beanspruchten eine territorial umfassende Staatlichkeit für sich. In Kiew war man bäuerlich-bürgerlich, in Charkow proletarisch-revolutionär orientiert. Dazu kam noch die bakunistisch-anarchistische Machnowschtschina, benannt nach ihrem Führer Nestor Machno, der zwischen 1917 und 1921 einen freien Rajon in der Größe von 80.000 Quadratkilometern mit sieben Millionen EinwohnerInnen im Süden und Osten der späteren Ukraine verwaltete.
Parallel zu den von Leo Trotzki als Vertreter der Sowjets geführten Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk schlossen die bereits arg in Bedrängnis geratenen Monarchien der Hohenzollern und der Habsburger am 27. Januar 1918 einen Separatfrieden mit der Kiewer Rada, den sogenannten Brotfrieden. Für die Anerkennung der bürgerlichen „Ukrainischen Volksrepublik“ verlangten Berlin und Wien Getreidelieferungen, um damit die Hungernden zu Hause ernähren zu können. Zur militärischen Absicherung dieses gegen die Sowjetrepubliken in Charkow und Donezk-Kriwoj-Rog gerichteten Separatabkommens marschierte die österreichisch-ungarische Armee bis Odessa, während die Preußen ihre Interessen von Kiew aus kontrollierten. Das Ende der deutsch- bzw. österreichisch geführten Ukraine näherte sich im Juni 1920 mit dem Vormarsch der Bolschewiken. Die „Ukrainische Sowjetrepublik“ beließ vorerst ihre Hauptstadt in Charkow, erst 1934 verlieh man Kiew diesen Status.
Der nächste deutsche Vorstoß kam am 22. Juni 1941. Drei Millionen Wehrmachtsoldaten überrannten die Ukraine und hinterließen verbrannte Städte und fünf Millionen Tote. Das hastig eingerichtete „Reichkommissariat Ukraine“ plante die Vernichtung großer Teile der slawischen und jüdischen Bevölkerung und deren Ersetzung durch die Ansiedlung von 20 Millionen Deutschen. Der fruchtbarste Boden Europas, die ukrainische Schwarzerde, sollte in Zukunft den deutschen „Herrenmenschen“ ernähren. Dazu wurden an vielen Stellen des Reiches Bauern zu Verwaltern von landwirtschaftlichen Gütern im Osten ausgebildet. Der Autor dieser Zeilen war mit einem solchen präsumtiven Verwalter befreundet, der als junger Bauer auf Waggonweise herbeigeschaffter Schwarzerde im damals ostmärkischen Waldviertel den Anbau von Getreidesorten übte. Vier Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion endete der deutsch-nationale Traum von einem „Raum ohne Volk“ im bislang schrecklichsten Alptraum. Die Spitzen der Wehrmacht-freundlichen „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN) wie Stepan Bandera und sein Stellvertreter Jaroslaw Stezko zogen mit den deutschen Truppen ab und fanden in München politisches Asyl.
Unmittelbar nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991, die vier Monate vor der Auflösung der Sowjetunion ohne Volksbefragung erfolgte, begann die nächste Runde im Kampf um die Ukraine. Auch diesmal ging es, wie 400 Jahre zuvor, anfangs um die religiös-kulturelle Orientierung und die dazugehörige Hardware, die Kirchenhäuser. Die in der Sowjetunion verbotenen und in den Untergrund getriebenen griechisch-katholischen Kleriker kehrten mit Unterstützung der Benediktiner des Wiener Schottenstiftes auf das Feld Gottes zurück – und kämpften im Westen der Ukraine um materielle Pfründe und menschliche Seelen. Anlässlich des 89. ökumenischen Symposions der Kirchenstiftung Pro Oriente, die sich vor allem um die Heimholung östlicher, orthodoxer Gläubiger ins römische Papstreich kümmert, fand eine denkwürdige Konfrontation zwischen Moskauer und römischen Kirchenfürsten statt. Die Veranstaltung, an der im Juni 1998 Hunderte Honoratioren und politisch einflussreiche Persönlichkeiten in den Räumen der Wiener Akademie der Wissenschaften teilnahmen, stand unter dem Titel „Orthodoxe und Griechisch-Katholische in der Westukraine“. Zwei Stunden lang warfen einander Bischof Avhustin vom Moskauer Patriarchat aus Lwiw/Lwow und der griechisch-katholische Auxiliar Lubomir Husar gegenseitigen Mord und Totschlag vor. Die Wiedervereinnahmung der Kirchenhäuser in den römisch-westlichen Orbit forderte ihre Opfer. 20 Jahre später, während der orangen Revolution am Kiewer Majdan im Herbst 2004, brüstete sich die rechtsradikale Partei Swoboda auf ihrer Homepage damit, schon beim Kirchenkampf der 1990er Jahre gegen die „Moskowiter“ aktiv gewesen zu sein.
Im Winter 2004/2005 wurde der west-östliche Kampf um die Ukraine rund um die Präsidentenwahlen ausgetragen. In der Stichwahl zwischen Wiktor Janukowitsch und Wiktor Juschtschenko obsiegte ersterer mit 49,4% gegenüber 46,7%. Verlierer Juschtschenko galt als Mann des Westens, während Janukowitsch auf die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Russland setzte. Straßenproteste mit Zigtausenden TeilnehmerInnen forderten die Wiederholung der Stichwahl, weil Nachwahlbefragungen ein anderes Resultat ergeben hatten und Manipulationen während des Wahlvorganges vermutet wurden. Vom Westen ausgebildete und über die Konrad Adenauer-Stiftung und die von George Soros gegründete Open Society-Foundation finanzierte NGOs radikalisierten den Protest, damals angeführt von den gewaltbereiten Nationalisten der Gruppe „Pora!“ („Es ist Zeit!“). Tatsächlich kam es am 26. Dezember 2004 zu einer Wiederholung der Stichwahl, die nun Juschtschenko mit 54% gegen 46% für sich entschied. Brüssel und Washington konnten sich am Sieg ihres Kandidaten indes nicht lange erfreuen. Im Machtkampf um die Führung zwischen Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julija Timoschenko zerrieb sich das westliche Lager.
Jedem Beobachter, der in den Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung die Ukraine bereiste und sich nicht nur in den westlichen, ehemals habsburgischen Oblasten aufhielt, musste die extreme Spaltung des Landes aufgefallen sein. Die Ukraine war (und ist) ein vielfach geteiltes Land: wirtschaftlich in einen agrarischen Westen und einen industriellen Osten sowie kulturell und historisch in einen griechisch-katholischen Westen und einen orthodoxen Osten und Süden. Politisch zeigt sich diese Zerrissenheit bei den Wahlen. Die von Janukowitsch letztlich gewonnenen Präsidentschaftswahlen 2010, die letzten vor den seit 2014 anhaltenden militärischen Konfrontationen, geben ein Zeugnis dieser Teilung ab. Während im Westen in den Bezirken Lwiw und Iwano-Frankiwsk die europäisch-orientierte Timoschenko auf 86% bis 88% der Stimmen kamen, siegte Janukowitsch auf der Krim und im Donbass mit 89% bzw. 90%. Kein Land der Welt kann eine solche politische Zerrissenheit langfristig überleben.
Anmerkungen
Der vorliegende Text erschien am 12.12.2025 auf den Nachdenkseiten[1]. Die Phenixxenia-Version erscheint mit freundlicher Unterstützung des Autors auf Contemporary Warcraft.
Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: „Im Wirtschaftskrieg. Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland.“ (Promedia Verlag, Wien)