Die visionäre Hellsichtigkeit Doris Lessings: Unterschied zwischen den Versionen
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Zu Lebzeiten mißverstanden als marxistische Feministin, erweist sich die Nobelpreisträgerin Doris Lessing Jahr um Jahr überzeugender als Genie gesellschaftlicher Analyse mit prognostischer Schlagkraft, daß dem Leser sprichwörtlich Hören und Sehen vergeht. Nachfolgend eine Leseprobe: | |||
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''Wie jeder hier weiß, wie es jede oder jeder vom Augenblick der freiwilligen Meldung an eingehämmert bekommen hat, geht es keineswegs darum, in die vergiftete Hölle hinabzusteigen und davon unberührt zu bleiben. Ein jeder von uns setzt sein Leben aufs Spiel. Denn diese Geschöpfe sind zum größten Teil böswillig und mordlustig von Natur und können andere nur insoweit ertragen, als sie ihnen ähneln.'' | |||
Damit müssen wir rechnen. Ferner ist damit zu rechnen, daß die Kolonien, die das Ergebnis früherer Abstiege waren, zumindest in ihrer Mehrzahl ebenfalls diese Eigenschaften im Umgang mit anderen angenommen haben — sich also getrennt von ihnen halten, nicht mit ihnen auskommen und feindselig auftreten. Oder daß sie in diesem Giftgemisch, was sie Luft nennen, lediglich im Gedächtnis behalten haben, daß sie sich nicht anstecken lassen sollten und nun ihre ganze Energie ausgeklügelten Systemen widmen, deren Aufgabe einst darin bestand, sie bei Vernunft zu halten, die jedoch unterdessen nur noch der Selbstrechtfertigung dienen. | ''Sie sind folglich imstande, einander wegen einer geringen Abweichung der Hautfarbe oder des Auftretens abzuschlachten. Auch können sie die nicht dulden, die nicht so denken wie sie. Obwohl sie - theoretisch - ganz genau wissen, daß die Oberfläche der bewohnten Teile des Erdballs in Tausende von Zonen eingeteilt ist, von denen jede ihr eigenes religiöses oder wissenschaftliches Glaubenssystem hat, und obwohl sıe wissen, daß es reiner Zufall ist, ob irgendein Individuum aus ihren Reihen nun in dieser oder jener Zone, diesem oder jenem Glaubensbereich geboren wurde, hält sie dies theoretische Wissen doch nicht davon ab, Fremde in ihrer eigenen, speziellen, kleinen Zone zu hassen und sie, wenn sie ihnen nichts antun, doch in jeder nur möglichen Weise zu isolieren. Das bedeutet: wenn es uns nicht gelingt, unsere Anpassung an sie vollkommen zu gestalten, werden sie uns, die Mitglieder des Teams, attackieren.'' | ||
''Damit müssen wir rechnen. Ferner ist damit zu rechnen, daß die Kolonien, die das Ergebnis früherer Abstiege waren, zumindest in ihrer Mehrzahl ebenfalls diese Eigenschaften im Umgang mit anderen angenommen haben — sich also getrennt von ihnen halten, nicht mit ihnen auskommen und feindselig auftreten. Oder daß sie in diesem Giftgemisch, was sie Luft nennen, lediglich im Gedächtnis behalten haben, daß sie sich nicht anstecken lassen sollten und nun ihre ganze Energie ausgeklügelten Systemen widmen, deren Aufgabe einst darin bestand, sie bei Vernunft zu halten, die jedoch unterdessen nur noch der Selbstrechtfertigung dienen.'' | |||
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Doris Lessing (1971): Anweisung für einen Abstieg zur Hölle, S. 140f | Doris Lessing (1971): Anweisung für einen Abstieg zur Hölle, S. 140f | ||
Aktuelle Version vom 13. Dezember 2024, 23:31 Uhr
Zu Lebzeiten mißverstanden als marxistische Feministin, erweist sich die Nobelpreisträgerin Doris Lessing Jahr um Jahr überzeugender als Genie gesellschaftlicher Analyse mit prognostischer Schlagkraft, daß dem Leser sprichwörtlich Hören und Sehen vergeht. Nachfolgend eine Leseprobe:
Wie jeder hier weiß, wie es jede oder jeder vom Augenblick der freiwilligen Meldung an eingehämmert bekommen hat, geht es keineswegs darum, in die vergiftete Hölle hinabzusteigen und davon unberührt zu bleiben. Ein jeder von uns setzt sein Leben aufs Spiel. Denn diese Geschöpfe sind zum größten Teil böswillig und mordlustig von Natur und können andere nur insoweit ertragen, als sie ihnen ähneln.
Sie sind folglich imstande, einander wegen einer geringen Abweichung der Hautfarbe oder des Auftretens abzuschlachten. Auch können sie die nicht dulden, die nicht so denken wie sie. Obwohl sie - theoretisch - ganz genau wissen, daß die Oberfläche der bewohnten Teile des Erdballs in Tausende von Zonen eingeteilt ist, von denen jede ihr eigenes religiöses oder wissenschaftliches Glaubenssystem hat, und obwohl sıe wissen, daß es reiner Zufall ist, ob irgendein Individuum aus ihren Reihen nun in dieser oder jener Zone, diesem oder jenem Glaubensbereich geboren wurde, hält sie dies theoretische Wissen doch nicht davon ab, Fremde in ihrer eigenen, speziellen, kleinen Zone zu hassen und sie, wenn sie ihnen nichts antun, doch in jeder nur möglichen Weise zu isolieren. Das bedeutet: wenn es uns nicht gelingt, unsere Anpassung an sie vollkommen zu gestalten, werden sie uns, die Mitglieder des Teams, attackieren.
Damit müssen wir rechnen. Ferner ist damit zu rechnen, daß die Kolonien, die das Ergebnis früherer Abstiege waren, zumindest in ihrer Mehrzahl ebenfalls diese Eigenschaften im Umgang mit anderen angenommen haben — sich also getrennt von ihnen halten, nicht mit ihnen auskommen und feindselig auftreten. Oder daß sie in diesem Giftgemisch, was sie Luft nennen, lediglich im Gedächtnis behalten haben, daß sie sich nicht anstecken lassen sollten und nun ihre ganze Energie ausgeklügelten Systemen widmen, deren Aufgabe einst darin bestand, sie bei Vernunft zu halten, die jedoch unterdessen nur noch der Selbstrechtfertigung dienen.
Doris Lessing (1971): Anweisung für einen Abstieg zur Hölle, S. 140f