Kinderkurheim Nickersberg Dr. Bartsch
Eine Dokumentation von Dr. phil. Anton Ottmann, Dielheim Publikation auf PhenixXenia mit freundlicher Genehmigung des Autors. |
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Als ich vor einiger Zeit im Internet einen Bericht über Verschickungskinder las, erinnerte ich mich an meine eigenen Erlebnisse im Kinderkurheim Nickersberg im Schwarzwald in der Nähe der Kleinstadt Bühl. Nach einer Tuberkulose-Erkrankung hatte ich dort Mitte der 50-er Jahre im Alter von zehn oder elf Jahren vier Wochen zur „Erholung“ zugebracht.
Ursprünglich wollte ich über die damaligen Zustände einen Bericht schreiben und suchte dazu über die örtli-che Redaktion der Badischen-Neuesten-Nachrichten (BNN) Zeitzeugen. Es meldeten sich 11 ehemalige „Ver-schickungskinder“, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht hatten. Ergänzend suchte ich Informationen über das Heim und das Leiterehepaar Elisabeth und Dr. Paul Bartsch, was zu Beginn wenig ergiebig schien. Im Stadtarchiv Bühl fand sich lediglich eine Abmeldeliste des Ehepaars Bartsch aus dem Kinderkurheim im Schwarzwaldort Sasbachwalden bei Achern. Sie war gleichzeitig die Anmeldung in die Gemeinde Altschweier (heute Ortsteil von Bühl) zur Übernahme des Kinderkurheims „Nickersberg“.
Nachdem ich herausfand, dass in Sasbachwalden ein Erholungsheim für hochrangige SS-Angehörige war und Himmler dort noch kurz vor Kriegsende vor Armee-Kommandeuren eine Rede gehalten hatte, kam ein erster Verdacht auf, dass es sich bei Paul Bartsch um eine Person mit Nazi-Vergangenheit handeln könnte. Denn, woher sollte er als Berliner den Ort kennen? In dem für Sasbachwalden zuständen Archiv des Ortenaukreises fanden sich dann zahlreiche Schriftstücke über das Ehepaar Bartsch, aus denen hervorging, dass Paul Bartsch gar kein Arzt war, wie alle mir bekannten ehemaligen „Verschickungskinder“ selbstverständlich angenom-men hatten. Er gab sich stattdessen als „praktischer Psychologe“ aus, was keine übliche Berufsbezeichnung darstellt. Außerdem waren einige Schreiben der Berliner Jugendbehörde an einen Otto Bartsch adressiert, genauso wie die Selbstauskunft bei der Staatsanwaltschaft Berlin, ob ein Strafverfahren gegen ihn vorliege. Da „Otto“ in der in Berlin angeforderten Geburtsurkunde nicht als Zweitname eingetragen war, entstand kurzzeitig der Verdacht, dass es sich bei Otto und Paul um zwei verschiedene Personen handeln könnte.
In den Akten fand ich Hochzeitsdatum und –ort, sodass eine Heiratsurkunde angefordert werden konnte1, auf der Bartsch als „Stabsintendant, Doktor der Philosophie“ eingetragen war. Unter Religion war „gottgläubig“ vermerkt, die im 3. Reich übliche Bezeichnung für einen aus einer Religionsgemeinschaft ausgetretenen Na-tionalsozialisten. Diese Informationen brachten zuerst einmal mehr Verwirrung als Aufklärung. Doch nun war mein Ehrgeiz geweckt. Mit über 30 Anfragen an Bundes-, Landes-, Stadt-, Kirchen- und Universitätsarchiven sammelte ich Informationen zu dessen Berufsausbildung und den Militär- und Studienzeiten. Heute steht zweifelsfrei fest, dass er sich nach dem Krieg eine falsche Identität aufgebaut hatte und dass es sich bei Otto Bartsch mit Sicherheit nicht um einen Doppelgänger handelte. Wie im vierten Teil der Dokumentation darge-stellt, konnte ich am Ende sein Leben von der Geburt im Jahr 1892 bis zum Tod im Jahr 1977 fast vollständig rekonstruieren. Dabei kam unter anderem heraus, dass er von Beruf weder Mediziner, noch Psychologe und auch nicht Heimleiter war, sondern Diplomhandelsschullehrer.
Verschickungskinder im Kinderkurheim Nickersberg (1950 – 1963)
Presse
Anlässlich der Übergabe des Kinder-Kurheimes Nickersberg an die Gesamtkirchengemeinde Karls-ruhe im Jahr 1963 war in einem Bericht der „Badischen Neuesten Nachrichten“3 zu lesen: „Am Dienstagnach-mittag nahmen Dr. Paul Bartsch und seine Gattin Abschied von ihrer Wirkungsstätte. Genau am 1. Mai 1950 waren sie eingezogen und hatten ein kleines Erholungsheim übernommen. In jahrelanger Arbeit hatten sie es erweitert, sodass das Kinderheim Nickersberg in seiner jetzigen Form geradezu eine Insel des Friedens und eine ideale Erholungsstätte darstellt.“ Zu den letzten „kleinen Feriengästen“, die kurz vor der Übergabe das Heim verließen, schreibt der Autor des Artikels: „“Sie waren einige der 10.000, die im Laufe der vergan-genen Jahre unter der Obhut des Ehepaares Dr. Bartsch und der Kindertanten an Leib und Seele gestärkt worden waren, und sie gehören sicherlich zu den vielen, die auch später noch immer wieder in Briefen die Verbindung mit jenen Menschen suchen, die sie für einige Wochen mit viel Liebe betreuten.“ Weiter wird ausgeführt: „In zu Herzen gehenden Worten drückte Dr. Bartsch aus, was ihn in dieser Stunde des Abschied-nehmens bewegte. Er erinnerte an die Fülle der Eindrücke, die auf ihn im Laufe der Nickersberg-Jahre ein-gestürmt seien, an das Wohlwollen, mit dem ihm die vielen Kinder begegnet seien …“. Zeitzeugen zeichnen ein ganz anderes Bild.
Verena
„Meine Zwillingsschwester und ich wurden 2- oder 3-mal verschickt, einmal in den Sommerferien 1962, wir wurden 8 Jahre alt, als „untergewichtige“ Privatpatienten (unser Vater war Beamter) nach Haus Nickersberg. Meine Schwester hatte mehrmals eine „Lungenentzündung“ gehabt, und ich musste mit. Schmackhaft gemacht hat man uns, die wir gerne schwimmen gingen, das mit dem angeblich vorhandenen eigenen Schwimmbecken dort, das war je-doch dann leer und nicht in Betrieb. Unser Vater brachte uns mit dem ge-rade erstandenen neuen Auto, einem Ford Taunus, hin. Bei unserer Ankunft wurden wir von dem ‚Doktor‘, einem farblosen, dicklichen Mann mit wenig Haaren und zerknautschtem Anzug, empfangen, er wohnte in einem bunga-lowähnlichen Haus auf dem Gelände, und trat dann nicht mehr in Erschei-nung. Dann wurden wir zu unserem Schlafsaal gebracht. Jeder hatte irgend-wie ein persönliches Fach. Aber alles, was unsere Mutter uns an Süßigkeiten und Spielsachen mitgegeben hatte, wurde konfisziert, ‘weil wir ja die ande-ren Kinder nicht traurig und neidisch machen wollten‘, es wurde aber auch nicht ver- oder geteilt, wir sahen es einfach nicht wieder.
Auch unseren Berichten wollte niemand Glauben schenken, über zensierte Postkarten, nicht enden wollenden Mittagsschlaf, bei gutem Wetter draußen auf einem leicht abfallenden Gelände unter Nadelbäumen auf irgendwel-chen Drahtbettgestellen, anstrengende Wanderungen, eingezogene Süßigkeiten und Geschenke, die unsere Eltern uns etwa zum Geburtstag geschickt hatten, essen müssen bis zum Erb-rechen, das Erbrochene aufessen bzw. wenn im Schlafraum, selber wegwischen müssen. Ich erinnere mich an den Kampf mit der Kotze (Reis oder Nudeln mit Sauce?) in rot-weiß-karierter Bettwäsche und habe den Geruch noch heute in der Nase. Beim Mittagsschlaf gab es immer wieder „Probleme“ mit einem älte-ren Mädchen, das anfing zu schreien und/oder „Anfälle“ hatte. Sie wurde dann mit Gewalt von den Betreuerinnen weggebracht. Erklärt wurde uns hierzu na-türlich nichts. Die einzigen positiven Erinnerungen habe ich an einen Ausflug in den Wald, bei dem wir Tannenzapfen, Äste usw. sammelten und daraus kleine Boote bastelten, die wir dann irgendwo in einem Bach schwimmen ließen.
An engere Kontakte zu anderen Kindern, die zur selben Zeit dort waren, oder an Namen erinnere ich mich nicht. Das mag daran liegen, dass ich mit meiner Zwillingschwester dort war und wir zwei dort eine „Schicksalsgemeinschaft“ bil-deten. Es wurde immer sehr viel gesungen, Lieder aus der Mundorgel wie „Abendstille überall …“, „Von den blauen Bergen …“, „Im Frühtau zu Berge …“, oft zackige Männerlieder wie „Wilde Gesellen ….“, „Wir lagen vor Madagaskar …“, aber auch das – wie ich heute weiß – Kriegslied „Die blauen Dragoner …“. Bei uns zuhause wurde nicht gesungen, und ich fand es sehr schön. Die schönen Erin-nerungen an das Singen wurden aber getrübt durch die hochsommerlichen Gewitternächte: Bei schweren Gewittern nachts wurden wir geweckt, wir mussten uns anziehen und mit irgendwelchem Notgepäck unten im dunklen (?) Tagesraum versammeln. Dort saßen wir dann voll Panik und mussten singen. Heute kann ich nicht singen, ohne dass mir die Tränen kommen, obwohl ich sehr gerne singen würde, und es stellt sich mir gerade erstmalig die Frage, ob die Ursache dafür nicht in diesen Gewitternächten in Haus Nickersberg liegt.“
Axel
Der neunjährige Axel wurde 1958 wegen Untergewicht mit seiner ein Jahr jüngeren Schwester für fünf Wochen im Kinderkurheim Nickersberg unterge-bracht, empfohlen vom Gesundheitsamt, weil „im Prospekt fröhliche Kinder, die in einem Schwimm-becken planschen“, zu sehen waren und es unter „kinderärztlicher Leitung“ stand. Er berichtet: „Wir wurden am Bahnhof Ludwigsburg von einem Bus aufgelesen und kamen nach mehrstündiger Fahrt ohne Pause und Verpflegung in Nickersberg an. Dort wurden uns als Erstes Postkarten ausgeteilt und ein euphorischer Text diktiert, um unsere El-tern zu benachrichtigen.4 Was uns schon gleich bei der Ankunft auffiel war, dass das tolle Schwimmbe-cken aus dem Prospekt mit Müll verfüllt war.“ Er berichtet dann von einer netten Gruppenleiterin, die nach drei Wochen rausflog, weil sie den Kindern zu viel durchgehen ließ und ihnen nach dem Frühstück keine Liegekuren verordnete. Dies änderte sich krass nach deren Weggang: „Wir mussten uns sofort nach dem Frühstück auf im Freien aufgestellte alte Bettgestelle legen und dort bis zum Mittagessen in der prallen Sonne liegend ausharren. Damit man nicht direkt auf den rostigen Bettgestellen lag, musste man sich vorher aus einem offenen Schuppen eine ausgemusterte, meist mit Urinflecken versiffte, aufgeplatzte Matratze als Unterlage holen. Nach dem Mittagessen ging es dann bis zum Abendessen mit dem Liegen weiter, dann ging es ins Bett. Sprechen oder Lesen war strengstens verboten. Für Kinder mit natürlichem Bewegungsdrang war das eine richtige Qual, vor allem wenn es mehrere Tage hintereinander so ging.“
Die sanitären Verhältnisse waren, nach Meinung von Axel, selbst für damalige Verhältnisse, katastrophal: „Es gab für mehrere Jungen-Gruppen nur zwei Toiletten. Sie wurden höchst selten oder vielleicht auch nie gereinigt. Oft waren sie verstopft und liefen über, so dass die Fäkalien auf dem Boden schwammen. Repariert wurden sie manchmal erst nach Tagen, sodass in der Zwischenzeit nur eine Toilette zur Verfügung stand. Da sie abends nicht mehr zugänglich waren, machten viele Kinder ins Bett. Man wurde ausgeschimpft, dann wurde die Matratze einfach umgedreht.“
Über die Körperpflege schreibt er: „Sie bestand darin, dass man sich mit freiem Oberkörper nach dem Auf-stehen über eine Badewanne beugen musste und dann Rücken und Kopf mit kaltem Wasser abgeduscht wurde. Richtig gebadet wurde gelegentlich auch mal, allerdings im Fließbandverfahren: Eine volle Bade-wanne musste für mehrere Kinder reichen.“
Das Essen war aus Sicht von Axel oft ekelerregend: „Die meisten Kinder fanden die fettigen Fleischklumpen im Essen und das Gemüse in Mehlpampe wenig genießbar. Ein Highlight waren fädige Bohnen in Mehlsauce, in die Blutwürste ausgedrückt waren (man hielt Schweine). Zum Frühstück gab es einen undefinierbaren Brei. Es musste immer vollständig aufgegessen werden, vorher kam man nicht vom Tisch weg oder bekam die Post von daheim nicht ausgehändigt. Serviert wurde in angeschlagenen Blechtellern, Getränke in abge-schabten Plastikbechern, die einen prägnanten Eigengeruch aufwiesen. Freitags gab es immer Buttermilch, in der Fettflocken schwammen, wir fanden das alle eklig.“
Wie gestaltete sich die „Kinderärztliche Leitung? Axel schreibt: „Kranke Kinder wurden in einem abseitsste-henden Schuppen ausgelagert. Dort lagen sie – abgesehen von kurzen Inspektionen durch eine Gruppenlei-terin morgens und abends – ohne Aufsicht alleine oder zu mehreren in einem Raum, bis man sie irgendwann wieder als gesund betrachtete. Ein Arzt kam nie.“ Seine Schwester hatte eine sehr schwere Mittelohrent-zündung, während deren Ausheilung sie unbehandelt im Krankenschuppen zubringen musste und die Bartsch im Abschlussbericht als „vorübergehende Drüsenempfindlichkeit“ beschrieb. Über den Heimleiter schreibt Axel: „Der Besitzer des Heims ließ sich fast nie blicken, er wohnte in einer Villa neben dem Heim und hat sich eigentlich um nichts gekümmert, außer dass er manchmal Kinder und Mitarbeiter von der Ter-rasse aus anbrüllte, wenn es ihm zu laut wurde.“
Axel beschreibt auch einen Ausflug: „Zwei Busse voller Kinder mussten den Tag über in glühender Hitze wan-dern, zum Mittagessen gab es für jedes Kind eine halbe Flasche Limonade. Klagen über Durst wurden igno-riert, wir haben dann aus einem Bach getrunken.“
Monika
Monika war als Fünfjährige im Mai/Juni 1959 zum Kuraufenthalt auf dem Nickersberg. Ihr setzte vor allem die „militärische Strenge“ zu. Sie schreibt: „Bis ins mittlere Erwachsenenalter hinein geriet ich immer wieder, wenn morgens beim Aufwachen Vogelgezwitscher zu hören war, kurzfristig in große Furcht, mich beim Öff-nen der Augen auf einer Pritsche unter Tannen am Haus Nickersberg wiederzufinden.“ Sie präzisiert noch an einigen Stellen die Ausführungen von Axel: „Mehrere Schlafräume gingen ohne Türen ineinander über, es gab eine Wache, die durch die Räume patrouillierte und jegliches Geräusch (auch Weinen) unter Androhung von Strafe unterband. Die Toilette durfte nachts nicht aufgesucht werden, stattdessen stand mitten im Raum ein Eimer. Der Ekel davor führte immer wieder zu nassen Laken, deren Verursacher am nächsten Tag vor den anderen bloßgestellt wurde. Während des Tages gab es zwei Ruhezeiten, nämlich am späten Vormittag eine halbstündige Liegekur und nach dem Mittagessen einen zweistündigen Mittagsschlaf. Das bedeutete abso-lute Stille, ansonsten drohte Strafe. Das war anstrengend, viele konnten nicht schlafen.“
Auch das Essen empfand sie als Tortur, „die Teller wurden gefüllt und mussten leergegessen werden.“ We-gen einer Infektionskrankheit befand sie sich die meiste Zeit in der Krankenbaracke, hat aber daran kaum Erinnerungen. Sie vermutet, dass ihr dort Beruhigungsmittel verabreicht wurden.
Andrea
Andrea, die mit ihrer Schwester auf dem Nickersberg war, beschreibt, wie sie einmal „den Hintern versohlt“ bekam, weil sie den Teller nicht leer aß und dass sie gesehen hat, dass andere Kinder ihr Erbrochenes aufes-sen mussten. Als traumatisch erlebte sie schon ihre Ankunft. Die beiden Mädchen, sechs und neun Jahre alt, waren von den Eltern mit dem Auto gebracht worden. Während diesen die Räumlichkeiten gezeigt wurden, sollten sie mit einer Gruppe spielen. Die Kinder haben noch gesehen, wie die Eltern aufgefordert wurden wegzufahren, verabschieden durften sie sich nicht.
Andrea erzählt auch ein Erlebnis ihrer Schwester „bezüglich des Kontrollwahns, der dort herrschte“: „Sie konnte schon schreiben und durfte eine Karte nach Hause schicken. Diese wurde streng zensiert und alles Negative musste entfernt werden. Eines Tages hat sie es nicht mehr ausgehalten und wollte unbedingt un-sere Eltern anrufen. Das Telefon befand sich in einem Glaskasten unter Verschluss. Ich weiß nicht, wie sie es fertigbrachte, jedenfalls rief sie die Nummer des Bahnhofs in Bingen an und wollte ihren Papa sprechen. Er war dort durch seine Bahnspedition bekannt. Der Beamte rief meine Eltern an um ihnen zu sagen, dass sich ihre Tochter aus dem Schwarzwald gemeldet hatte. Auf deren Nachfrage beim Nickersberg bekam meine Schwester ordentlich Stress, weil das Telefonieren streng verboten war.“
Andrea berichtet auch, wie sie im Heim die oft heftigen Schwarzwald-Gewitter erlebte: „Frau Reiter5, der Drachen, führte das Kommando. Wir mussten alle aus den Betten nach unten in den Aufenthaltsraum. Wir durften unsere Zudecken mitnehmen. Dann wurde gebetet und gesungen, was nur noch mehr Angst schürte. Manchmal fiel das Licht aus und man saß mit einer Kerze in der Hand da und bibberte um sein Leben.“
Toni
Erschütternd der Bericht von dem Mädchen Toni: „Ich bin als ‚Berliner Ferienkind‘ etwa sechs Wochen vor Weihnachten 1952 durch die BFA verschickt worden. Ich war gerade sieben Jahre alt und ein dünnes, zartes Kind. Um mich aufzupäppeln, bekam ich jeden Tag eine Stunde vor dem Mittagessen einen großen Becher Müsli gereicht, den ich unter Aufsicht zu mir nehmen musste. Davon noch satt, verweigerte ich dann unter Weinen das Mittagessen. Daraufhin musste ich zur Strafe im Büro des Heimleiters essen. Sobald ich gegessen hatte, erbrach ich alles. Daraufhin wurde ich ausgeschimpft, sodass ich weinen musste. So ging das fast jeden Tag. Ich hatte während dieser Zeit furchtbares Heimweh und wollte nur noch nach Hause. Weih-nachten sollte es endlich soweit sein. Der Koffer war gepackt. Das Gepäck der anderen Kinder und meines standen am Bus zum Verladen. Alle durften einsteigen, nur ich wurde zurückgehalten. Weil ich an Gewicht verloren hatte, musste ich nochmals sechs Wochen im Haus bleiben. Ich habe nur noch geweint. Erst als der Bus in Berlin an der Rentenversicherung ankam, wurden meine dort wartenden Eltern informiert. Sie waren enttäuscht und fassungslos.“
Zusammenfassung
Weitere persönliche Berichte beschreiben im Großen und Ganzen die gleichen Zustände und zeigen damit ein katastrophales Bild der damaligen Kinderbetreuung, ähnlich wie es Anja Röhl in ihrem Buch6 „Das Elend der Verschickungskinder“ von vielen anderen Heimen in der Nachkriegszeit zeichnet.
Das Essen diente der reinen Nahrungsaufnahme, unabhängig davon, ob es den Kindern schmeckte oder nicht. Liegekuren an der frischen Luft, Gewaltmärsche bei jedem Wetter und kaltes Duschen sollten den Körper ertüchtigen. Die sanitären und hygienischen Verhältnisse waren menschenunwürdig, sie zu ertragen stärkte vermutlich aus Sicht der Heimleitung die Abwehrkräfte, vor allem aber wären Verbesserungen mit hohen Kosten verbunden gewesen. Mehrere Zeitzeugen berichten auch übereinstimmend über den für sie ungewohnt militärischer Umgangston, vor allem bei der Heimleiterin. Einige meinten sogar, dass „Nazi-Lie-der“ gesungen worden seien.
Einige Kinder wurden zwar in die Krankenbaracke eingewiesen, blieben dort aber ohne ärztliche Versorgung, wie das eigentlich für ein „Kurheim“ zu erwarten gewesen wäre. Dies bestätigte auch eine ehemalige Kin-dergärtnerin, die dort mit ihrem vierjährigen Kind in einem Zimmer untergekommen war. Ihr Mann wohnte als Hausmeister in einem benachbarten Kurheim. Selbst arbeitslos, hatte sie die kostenlose Unterkunft dank-bar angenommen. Im Telefongespräch erzählte sie, dass sie die kranken Kinder alleine und ohne ärztliche Anweisungen des Dr. Bartsch betreut habe. Sie erinnert sich nicht daran, dass sie für diese Arbeit bezahlt worden war. Ihr Junge hat als einziger Zeitzeuge gute Erinnerungen an das Heim, in dem er sich frei bewegen konnte und ab und zu vom Heimleiter einen Apfel geschenkt bekam.
Röhl nennt in ihrem Buch mehrere Gründe für das unmenschliche Verhalten der Betreuer in den Kinder-kurheimen. Zwei davon könnten im Nickersberg zum Tragen gekommen sein: Das weitgehend vom 3. Reich geprägte Personal7 führte „die nationalsozialistische Erziehung zur Härte, Kälte und Disziplinierung“ fort und das Ehepaar sah im Betreiben eines Kinderheimes eine lukrative Einnahmequelle, zumal beide nicht in ihre ursprünglichen Berufe zurückkonnten oder -wollten.8
Zeitzeuge Axel schreibt: „Zusammenfassend würde ich urteilen, dass Kinder nicht bewusst gequält oder miss-handelt wurden, sondern eher einfach von völligem Desinteresse und von Vernachlässigung betroffen wa-ren. Dr. Bartsch wollte offensichtlich mit minimalem Aufwand und mit möglichst geringem Einsatz ordentlich Geld verdienen. Darüber hinaus haben die zuständen Behörden ihre Kontrollaufgaben wohl schlichtweg nicht wahrgenommen.“