Die gesunde Wirkung der Schulen
Die gesunde Wirkung der Schulen ist an allen Orten und zu allen Zeiten davon abhängig, daß der Sporn der Mitbewerbung in jeder Form oder Verkleidung gänzlich ausgeschlossen wird. Jedes Kind sollte an seinem eigenen Maßstab gemessen, zu seiner eigenen Pflicht angehalten und durch sein gerechtes Lob belohnt werden. Die Anstrengung verdient Lob, nicht der Erfolg. Es ist für keinen Schüler die Frage, ob er klüger oder dümmer ist, als andere, sondern ob er mit den ihm verliehenen Gaben sein Bestes getan hat. Die Verrücktheit des modernen Einpauk- und Prüfungssystems entsteht hauptsächlich aus dem Kampf um einträgliche Stellen, aber auch zum Teil aus der eingewurzelten Dummköpfigkeit, mit der man annimmt, daß alle Menschen von Natur gleich sind und nur durch Ellbogenstöße auf ihrem Wege vorankommen können. Dabei ist die Sache so, daß jeder Mensch mit genau bestimmten, durchaus begrenzten Fähigkeit geboren wird; daß er von Natur, - wenn anders er überhaupt befähigt ist, - zu einigen Dingen fähig, zu anderen unfähig ist; daß zu den ihm gewährten Unzen Gehirns keine Anstrengung und kein Lehren ein Atom hinzufügen kann; daß er durch Wettbewerb seine Kräfte wohl lähmen und verkehren, aber nach keiner Richtung hin ausdehnen kann, und daß die ganze Anmut, das Glück und die Tugend seines Lebens davon abhängt, daß er pflichttreu tut, was er kann und friedlich bleibt, was er ist. Soweit er die geringere oder größere Fähigkeit anderer ansieht, soll er seine Überlegenheit zu ihrer Unterstützung, nicht zu eigenem Vorrang benutzen, und wo er übertroffen wird, sei ihm das kein Anlaß zum Verdruß, sondern zur Freude in der Bewunderung edlerer Kräfte. Ich habe keinen Ausdruck für die Größe der Freude, welche ich über die Macht Turners und Tintorettos empfand, als mein eigenes Können erst im Werden war; und alle Künstler werden zugeben, daß es viel weniger persönliches Vergnügen bereitet, etwas schön zu tun, als es schön tun zu sehen. Über jeder Schultür, über dem Tor jedes Kollegienhauses sähe ich gern in Marmor eingegraben das uneingeschränkte Verbot: "Nichts tut durch Streit oder eitle Ehre."
Quellen
Fors Clavigera, John Ruskin, 1871-1884 (Übersetzung von Maria Kühn, 1910).