Prof. Dr. Ulrike Guérot am 3.6.2025:ZeitenWenden

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Prof. Dr. Ulrike Guérot (Foto: Karl Gruber)

Prof. Dr. Ulrike Guérot: „Es geht nicht um Logik, es geht um Propaganda“

Inhalt

Nun haben wir noch gar nicht über den Titel Ihres Buches gesprochen „ZeitenWenden“. Damit greifen Sie jenen Begriff auf, der in Deutschland der Politik zur Legitimierung der Aufrüstung dient. Wie ist der Begriff in Ihrem Buch angelegt?

„ZeitenWenden“, ja, den Titel habe ich gewählt, weil der Begriff Zeitenwende meines Erachtens geradezu inflationär benutzt wurde in den letzten Monaten, ähnlich wie damals alternativlos. An der Zeitenwende sind jetzt wahlweise Putin oder Trump schuld.

Im ersten Kapitel stelle ich daher Überlegungen an, was eine Zeitenwende eigentlich ist, nämlich eine Zeit, in der Atlanten oder Karten neu gemacht werden. Denn darum geht es ja im Kern, egal, ob Wladimir Putin auf Teile der Ukraine Anspruch erhebt oder Donald Trump sagt, Kanada und Grönland müssten amerikanisch werden: Es geht buchstäblich um die Neuvermessung der Welt. Die Zäsur, also die Zeitenwende, die wir gerade durchlaufen, ist die Abwendung von der Pax Americana hin zu einer multipolaren Welt. Aber anstatt das als solches zu benennen und zu diskutieren – und möglichst noch zu fragen, welchen Platz Europa denn in der multipolaren Welt einnehmen soll – zeigt man mit dem Finger auf Putin und Trump, verharrt in Besitzständen und will die alte Ordnung verteidigen.

In meinem Buch versuche ich darum, die paradigmatischen Verschiebungen, die wir gerade erleben, neu zu beleuchten. Zum Beispiel bestreite ich, dass es derzeit – wie allgemein kolportiert – darum geht, dass Europa jetzt von den USA gleichsam allein gelassen wird und darum selbst seine Verteidigung ausbauen und möglichst noch allein in den Krieg gegen Russland ziehen soll. Sondern ich skizziere das, was ich einen transatlantischen Bürgerkrieg nenne: Ein Teil der USA bekämpft Trump, zieht über den Atlantik hinweg mit transatlantischen Eliten in Europa an einem Strang, während die sogenannten Populisten in Europa Trump feiern. Es geht hier meines Erachtens um ein Schisma zwischen Liberalismus und Populismus, was ein neues, gesellschaftspolitisches Paradigma, keine geostrategische Frage ist.

Ich spreche von einem Moment der stasis (griechisch), einem Moment der gesellschaftlichen Stockung. Zwei Teile einer Gesellschaft – in den USA ebenso wie in Europa – sind gestockt, verrühren sich also gleichsam nicht mehr, so wie ranzige Milch im Kaffee ausflockt. Daraus ergibt sich das, was man gemeinhin lawfare nennt, also die Fortführung der Politik mit juristischen Mitteln: Marine Le Pen darf nicht bei den Präsidentschaftswahlen antreten, ein rumänischer Präsidentschaftskandidat wird ausgewechselt, die AfD soll verboten werden usw. Diese Erosion oder die Aushebelung des Politischen an sich nenne ich Zeitenwende, also eigentlich die Entkernung der Demokratie mit (vermeintlich) demokratischen Mitteln.

Das Interview führte Marcus Klöckner.

Dieses Interview erscheint mit Genehmigung der Nachdenkseiten wo es am 6. Juni 2025 erstmals publiziert wurde.