Der Nebukadnezar-Fluch

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In unserer Zeit der Arbeit reden die Leute, wenn sie ehrlich sprechen, als wären Häuser und Äcker, Nahrung und Kleidung allein nützlich, als wären Sehen, Denken und Bewundern ganz uneinträglich, und Menschen nennen sich anmaßenderweise Utilitarianer, die, wenn es nach ihrem Willen ginge, sich und ihr Geschlecht in Gemüse verwandeln würden; Menschen, die denken, - soweit man denn überhaupt davon reden kann, daß sie denken, - die Speise sei mehr als das Leben, die Kleidung mehr als der Leib, die die Erde als einen Stall und ihre Frucht als Futter ansehen; Winzer und Ackersleute, welche das Korn, das sie mahlen, die Trauben, die sie pressen, mehr lieben, als die Gärten der Engel auf den Abhängen Edens; Holzhauer und Wasserschöpfer, die meinen, daß, um ihnen Holz zum Hauen und Wasser zum Schöpfen zu geben, die Fichtenwälder die Berge decken, wie der Schatten Gottes, und die großen Flüsse strömen gleich seiner Ewigkeit. So kommt das Wehe des Predigers über uns, "daß der Mensch das Werk, das Gott tut, nicht treffen kann, weder Anfang noch Ende."

Der Nebukadnezar-Fluch, der Menschen Gras essen läßt, wie Ochsen, scheint dem Übermaß oder der Andauer nationaler Macht und des Friedens nur allzu unmittelbar zu folgen. In ihren harten Zeiten, ihrem Kämpfen ums Dasein, ihrer Kindheit und ihrer Ohnmacht, sogar in ihrer Auflösung haben die Völker höhere Höffnungen und edlere Leidenschaften. Aus dem Leiden geht der ernste Sinn hervor, aus der Errettung das dankbare Herz, aus der Beharrlichkeit Stärke, aus der Befreiung Vertrauen. Wenn sie aber gelernt haben, unter der Vorsorge von Gesetzen in schicklicher und gerechter Rücksicht aufeinander zu leben, wenn sie die gewaltigsten äußeren Quellen des Leidens beseitigt haben, so scheinen aus ihrer Ruhe schlimmere Übel zu erstehen; Übel, die weniger beunruhigen und tödlicher wirken, die das Blut aussaugen, obwohl sie es nicht vergießen, die das Herz verknöchern, obgleich sie es nicht peinigen. So tiefen Anlaß zur Dankbarkeit jedes Volk hat, das mit andern in Frieden lebt und in sich selbst eins ist, so hat es doch auch Anlaß zur Furcht, zu einer größeren Furcht, als vor Schwert und Aufstand: däß die Abhängigkeit von Gott vergessen werde, weil das Brot gegeben und das Wasser gesichert ist; daß die Dankbarkeit gegen ihn aufhöre, weil die Beständigkeit seines Schutzes das Ansehen eines Naturgesetzes angenommen hat; daß die himmlische Hoffnung inmitten des vollen Genusses der Welt schwächer werde; daß Selbstsucht die Stelle unverlangter Hingabe einnehme, daß Mitleid in Hochmut und Liebe in Verstellung verloren gehe; daß Entkräftung auf Stärke, Gleichgiltigkeit auf Geduld, und der Lärm scherzender Worte und die Fäulnis dunkler Gedanken auf den Ernst und die Reinheit gegürteter Lenden und brennender Lampen folge. Um den Fluß des Menschenlebens weht trotz des himmlischen Sonnenscheins ein winterlicher Wind; der Regenbogen färbt sein Wogen, Frost lagert sich über seine Ruhe. Hüten wir uns, daß nicht unsere Ruhe die Ruhe der Steine werde, welche, solange sie vom Gießbach umhergeschleudert, vom Blitz getroffen werden, sich in ihrer Größe behaupten; wenn aber der Strom still ist, und der Sturm vorüber, so dulden sie, daß das Gras sie bedeckt, daß Flechten sich an ihnen nähren und werden in den Staub hineingepflügt.

Quelle

Modern Painters, John Ruskin, 1843-1860 (Übersetzung von Maria Kühn, 1910).