Die dreiunddreißig Stufen

Aus phenixxenia.org
Zur Navigation springen Zur Suche springen


Auszug aus Terra nostra (1979)
von Carlos Fuentes
übersetzt von Maria Bamberg

Text

Der junge Prinz blickte zurück: auf die Gräber, auf seinen eigenen Bleisarg, auf den Nonnenchor, den Altar, das Triptychon, die Tür zu seinem kahlen Schlafgemach voll heimlicher Lüste und harter Bußübungen, von dem aus er, ohne sich bewegen zu müssen, dem Gottesdienst hatte folgen können. Er erinnerte sich an seinen Vater. Er dachte, wenn er der Treppe den Rücken zudrehte, zurück in diese unterirdische Welt flöge, dann würde er, wie die beutegierigen Falken, die eingeschlossene Dunkelheit der Kapelle mit dem unendlichen Raum der Nacht verwechseln und sich an Pfeilern, steinernen Gewölben und Eisengittern flügellahm stoßen, und er würde noch einmal sterben.

Er nahm die heiße Hand des Schemens.

Er hob einen Fuß und setzte ihn auf die erste Stufe der Treppe.

- Sieh diesmal nicht dich an; sieh deine Welt an; und wähle noch einmal.

Langsam stieg Felipe nach oben, an der fieberheißen Hand von Michail ben Sama.

Er schloß die Augen, um diesmal nicht sich zu sehen, wie damals, sondern die Welt; und die Welt bot ihm auf jeder Stufe die Versuchung, noch einmal zu wählen, von der Mor­genfrühe der Zeiten an, aber immer am selben, verwandelten, Ort: in diesem, dem Land der Vespern, Hispanien, Terra Nostra.

Und auf jeder Stufe hörte er die doppelte Stimme von Michail ben Sama, eine Stimme, die zwei Stimmen war, jede deutlich, klar, undeutlich, dringend, zwei und doch eine, eine und doch zwei.

Mannweiblicher Schöpfer ei­nes Wesens, das geformt ist nach seinem Bild Schöpfervater eines unvoll­kommenen Menschen: Wo ist das Weib?
Das erste Wesen befruchtet sich selbst und vervielfältigt sich wie die Erde, ohne Be­fleckung Der Mann schändet das Weib, und beide beschädigen die Natur, die sie aus ihrem unheilen Garten weist
Die Harmonie der Welt der Kinder führt die ursprüngli­che Harmonie der Elternwelt fort Der Bruder tötet den Bruder, um die unterjochte Frau und die unwirtliche Erde zu be­sitzen
Die Verschiedenheit der Völ­ker, der Sprachen und Reli­gionen ist das Ergebnis einer Vermischung, welche die Einheit des Menschenge­schlechts kräftigt Die Herrschaft über das be­zwungene Weib und die be­siegte Erde empört Volk ge­gen Volk: Die Unzulänglich­keit wird als höherwertig ge­priesen, die Not als Vernunft
Alles gehört allen Mein und Dein
Unser
Ich muß sterben: Ich werde verwandelt wiederkehren Ich muß sterben: Nie kehre ich auf die Erde zurück
Ich muß leben: Ich will den Tod Ich muß sterben: Ich will Ruhm
Ich bin ein Strom Ich bin ein Schatten
Alles verändert sich Nichts darf sich verändern
Alles dauert Alles muß weitergehen
Ich begreife das, was sich bewegt Ich begreife nur das Unbewegliche
Ich liebe, was ich nicht kenne Ich hasse, was ich nicht ver­stehe
Ich erkenne mich wieder in der Verschiedenheit Ich rotte das aus, was anders ist
Mein Blut soll sich mit dem aller anderen mischen Mein Blut soll gereinigt werden, mit Blutegel und Ätzstift
Mein Körper soll neu geboren werden, bereichert durch das Blut der Vermischung Mein von der Reinheit des Blutes ausgelaugter Körper soll sterben
Ich liebe die Arbeit meiner erneuerten Hände: Ich erschaffe das Paradies neu Sklavenarbeit ist unwürdig meiner Asketenhände
Ich errichte Gärten Ich errichte Totenmale
Springbrunnen und Levkojen Stein und Leichentuch
Mein Körper vereint sich Mein Körper sondert sich ab
Liebe oder Alleinsein Ehre oder Unehre
Offenheit meiner weltlichen Sinne Unkenntnis alles dessen, was mich von der ewigen Selig­keit trennt
Freiheit für meinen Körper und meinen Geist, die offen sind für jede Befruchtung Unterdrückung meines Kör­pers und meines Geistes, die ich der Buße unterwerfe
Gemeinsamkeit Macht
Duldsamkeit Unterdrückung
Viele Einer
Christen, Mauren und Juden Hidalgo von reinem Geblüt
Spanier Ich, der König
Neue Welt Alte Welt
Alhambra Escorial
Zweifel Glaube
Verschiedenheit Einheit
Leben Tod