Erzählende Gebilde
Entstehungskontext
Der Begriff ist eine freie Übersetzung von Narrative Structures, einem Begriff, den der New Yorker Künstler Mark Lombardi als Beschreibung der von ihm gepflegten Kunstform geprägt hat. Mit Kurvenlinealen und Bleistift schuf er gigantische Werke im Meter-Massstab. Vor allem gegen Ende seines Lebens gelangen ihm ästhetisch überaus ansprechende Umsetzungen des weltumspannenden Nepotismus. Die Grundlage seiner Werke war indessen keine Spekulation, sondern eine akribisch gepflegte Sammlung abertausender Karteikarten mit Detailinformationen über die dargestellten Beziehungen. Dabei stützte sich Mark Lombardi stets auf für jedermann öffentlich zugängliche Quellen; er nutzte also kein Geheim-Wissen sondern Gemein-Wissen.
Technik
Ganz wie eine digitalisierte Photographie aus bunten Punkten, den Pixeln, besteht, von denen jeder einzelne keinerlei Bedeutung hat, im Einzelfall sogar verzichtbar ist, gleichen Mark Lombardis Werke einem antiken Mosaik oder einem Werk der impressionistischen Malerei, des Pointilismus. Hier wie dort gewinnt das Bild mit Anzahl und Güte der Enzelpunkte an Schärfe bis es dem Betrachter vollkommen plastisch, also greifbar erscheint wie eine Filmsequenz in High Definition Videoformat des Jahres 2013. Mark Lombardis virtuoser Umgang mit Komplexität und Detailtiefe macht die Mechanik hinter den mitunter rätselhaften Vorgängen der modernen Welt also be-greifbar. Der Mainstream-Journalismus des Jahres 2013 erscheint im Vergleich hierzu bestenfalls wie ein Farbfernseher in Röhrentechnik aus den 1970ern.
Wirkung
Weil es sich also bei Mark Lombardis Narrative Structures nicht alleine um Kunst, sondern auch um Projektionen der realen Welt mit Mitteln von Graphentheorie oder schlicht Mind Maps handelt, stiessen seine Werke auch ausserhalb der Kunstszene auf Interesse. Mark Lombardi war sich dessen bewusst und zierte seine Visitenkarte mit dem Slogan "Todesverachtende Akte der Kunst und der Verschwörung". Kein Wunder also, dass auch Vertreter des FBI zu den Anhängern seiner Kunst zählten, insbesondere dann wenn sie sich Hilfe bei der Aufklärung komplexer Fälle erhofften indem sie sich in Mark Lombardis, nicht nur ästhetisch ansprechende, Beziehungsmuster vertieften.
Fragen
Posthum, nach seinem überraschenden Tod im März 2000, der von offiziellen Stellen als Suizid eingestuft wird, erfuhr der Nachlass Mark Lombardis gesteigertes Interesse, gleichermassen aus kunstsinnigen wie aus politisch interessierten Kreisen. Die Karteikarten allerdings, der Fundus an Detailwissen auf den die Werke sich inhaltlich gründeten, erregten überproportional starkes Interesse seitens der ermittelnden Behörden und verwandter Dienste. In einem 2011 vorgestellten Film lässt die deutsche Regisseurin Mareike Wegener die letzte Schaffensphase Mark Lombardis in Interviews mit Zeitgenossen, Freunden und Verwandten noch einmal lebendig werden. Angesichts der brisanten Inhalte seiner Werke stellt der Film schliesslich die amtliche Todesursache in Frage. Die Antwort zu finden, bleibt dem Zuschauer überlassen.
Zukunft
Mehr als zehn Jahre nach dem Tod des Begründers und ersten Anwenders narrativer Strukturen bzw. erzählender Gebilde in der Kunst bleibt von Mark Lombardi die ästhetische Qualität seiner Werke und dominiert über deren einmal vorhandene politische Dimension. Die ursprünglich auf abertausenden Karteikarten gepflegten Detailinformationen finden sich heute, ständig aktualisiert, auf online verfügbaren Datenbankgiganten grosser Körperschaften von wo sie regelmässig den Weg in häufig unbefugte, aber kundige Hände finden. Mathematisch fundierte Algorithmen auf zeitgemässen Rechenanlagen erzeugen daraus in wenigen Augenblicken jeweils sekundenaktuelle Projektionen globaler Beziehungsnetze, für die der Künstler Mark Lombardi mit seinen Mitteln viele Monate gebraucht hätte.
So gesehen war Mark Lombardi gleichermassen detailversessener Künstler wie technischer Pionier. Seine erzählenden Gebilde haben dem breiten Publikum eine ästhetische Qualität nahe gebracht, mittels der das unmittelbare Be-Greifen der uns umgebenden, wenngleich unsichtbaren, weil virtuellen, Welt selbstverständlich wird und das damit dem Status einer Kulturtechnik sehr nahe gekommen ist. Der Nachwelt bleibt also dieses emanzipatorische Element aus dem künstlerischen Schaffen Mark Lombardis als absoluter Wert erhalten.
Retrospektive
Indes ist die graphische Umsetzung von Beziehungen zwischen Individuen und Körperschaften weder innovativ noch subversiv: Im professionellen Alltag von Arbeitnehmern des Jahres 2013 ist das Organigramm unverzichtbar für die eigene Ortsbestimmung und Karriereplanung. Und dieses gilt nicht nur im Kontext multinationaler Konzerne. Kleine und mittlere Unternehmen, die sogenannten KMUs, sind ohne Einbindung - ein Euphemismus für Abhängigkeit - in die Finanzierungs- und Entscheidungswege der Gravitationszentren ihrer Branche nicht überlebensfähig. Die als verlängerte Werkbank umschriebene Umsetzung des Taylorismus lässt nur wenig Spielraum für echte gewerbliche Selbständigkeit.
Bereits 1976, also gut 20 Jahre vor Mark Lombardi, hat der deutsche Regisseur Rainer Erler diesem Thema eine Episode seiner Fernsehfilmreihe Das blaue Palais über ein romantisch gelegenes und über fünf Folgen familiär geführten Forschungsinstituts gewidmet. Am Ende steht die graphische Präsentation der Finanzierungsstruktur des Instituts. Es war der letzte Film dieser Reihe.
Links
Lombardi Spring Embedder von der Arizona University, USA
Trailer zum Film von Mareike Wegener aus 2011
Sendung im ARD Kulturreport von Joachim Gaertner
Zum weltumspannenden Nepotismus: Der Gigant von Rainer Erler Teil 6/6.