Fünf Familien auf der Suche nach dem gelobten Land
- Vor über zweihundert Jahren suchten Mühlhausener Familien auf der Halbinsel Krim eine neue Heimat
- Gründung des Dorfes Kronental nahe am Schwarzen Meer
Mühlhausen – rka – Was bewegt Menschen, Haus und Hof, Heimatdorf und Vaterland zu verlassen, um in einem fernen Land das Glück zu suchen? Im Mai 1809 brachen fünf Mühlhausener Familien mit insgesamt 20 Personen in Richtung Osten auf, um auf der Halbinsel Krim am Schwarzen Meer gemeinsam mit 53 weiteren Familien aus Baden und Württemberg das Dorf Kronental 25 Kilometer westlich von Simferopol zu gründen.
Die soziale und wirtschaftliche Lage in unserem Dorf war damals alles andere als rosig. Durch das rasche Anwachsen der Bevölkerung wurde es eng im Dorf. Wie sollte die Bevölkerung ernährt werden? Es gab zu wenig ertragreichen Boden. So hielt man Ausschau, ob Waldstücke gerodet werden könnten oder ob sich das sumpfige Gelände entlang des Angelbachs entwässern ließ. Aber der landwirtschaftlich nutzbare Boden ließ sich nicht in demselben Maß vermehren wie die Bevölkerung wuchs. Es entstanden neue Probleme. Nur wer eine Familie ernähren konnte, durfte heiraten. Dazu kam, dass der Besitz immer weiter zersplitterte, weil jetzt jedes der zahlreichen überlebenden Bauernkinder das Recht hatte, seinen Erbteil an Grund und Boden zu beanspruchen. Kriegschulden, Missernten, Zahlungsverpflichtungen, Steuern trieben viele Familien in den Ruin.
Da hörte man aus Russland die Kunde von einem Land, in dem Milch und Honig fließt: Die Halbinsel Krim. Zarin Katharina II. und Zar Alexander I. hatten einen Aufruf gestartet, in dem Ausländer gezielt eingeladen wurden, sich in Russland anzusiedeln, um die Landwirtschaft und das Handwerk zu fördern. Um den Erfolg ihres Aufrufs zu garantieren, räumten sie den Siedlern großzügige Privilegien ein, von denen man in Mühlhausen nur träumen konnte: Kostenlose Zuweisung des unbebauten Lands, Erlaubnis zum Kauf weiterer Grundstücke, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, Befreiung vom Militärdienst, Religionsfreiheit, kulturelle Autonomie, kommunale Selbstverwaltung, völlige Freiheit zum Verlassen des Landes.
Auch in unserer Region waren russische Unterhändler zu Werbungszwecken unterwegs, die relativ skrupellos und mit vielfältigen Versprechen die Menschen mit Geld zur Auswanderung nach Russland bewegen wollten. Vor allem suchte man, so steht es in einem Erlass des Zaren vom 20. Februar 1804, vermögende Landwirte und Handwerker. Das lockte auch fünf Familien aus Mühlhausen, welche die Behören um Erlaubnis baten, auszuwandern, was am 2. Mai 1809 genehmigt wurde. Es waren dies Leonhard Waiß, Landwirt mit Frau und vier Kindern, Josef Hermann mit Frau und zwei Kindern, , Josef Sautner mit Frau und drei Kindern, Franz Kretz mit Ehefrau Katharina und einem Sohn, Wendelin Becker mit Frau. Beckers Ehefrau Elisabeth begleitete ihn bis zur russischen Grenze, kehrte dann aber wieder nach Mühlhausen zurück. Die Gründe bleiben im Dunkeln. In Russland heiratete Becker wieder.
Die beschwerliche Reise der Mühlhausener Familien gemeinsam mit Auswanderern aus weiteren Orten Badens gestaltete sich – wie man ahnen kann – zu einem Abenteuer. Der Reiseweg führte über Sachsen, Preußen, Polen, Biala an der russischen Grenze und Simferopol. Endlich nach langen entbehrungsreichen Monaten betraten die Auswanderer ihr gelobtes Land, die Krim. Noch mussten sie die Halbinsel von Norden nach Süden durchqueren. Über ein riesiges, ödes Steppengebiet, wasserarm, baumlos und von kleinen Salzseen durchsetzt, zog die Karawane. Die Enttäuschung war groß: Nichts war für die Ankömmlinge vorbereitet, nur Tartaren hausten hier in ihren armseligen Flechtwerkhütten. Hier sollten sie siedeln, in diesem trostlosen Gebiet? Soll dies das gelobte Land sein? Es hieß doch, hier gebe es Wälder, Täler, Flüsse und Felder – genau wie in Mühlhausen. Sicher kam die Sehnsucht nach der alten Heimat hoch. Doch mit viel Mut und Entschlossenheit leisteten die Siedler Erstaunliches.
Zunächst wurden die Auswanderer unter menschenunwürdigen Bedingungen in der offenen Steppe angesiedelt, bis sie dann in die von Krimtartaren bewohnten Hütten übersiedeln konnten. Hier entstand dann nach und nach das baden-württembergische Dorf Kronental auf beiden Seiten des Flüsschens Bulganak. Der Landvermesser Tschugotow aus Simferopol hatte die neue Kolonie vermessen und schrieb am 27. Juni 1810: „Das Dorf ist tatsächlich in vier Viertel geteilt, jedes enthält 15 Höfe, 180 Klafter Länge, 20 Klafter Breite“ (1 Klafter = 2,13 Meter). Am Anfang war das Leben der Kolonisten von vielen Schwierigkeiten geprägt. Aus Mangel an Holz bauten die Kronentaler ihre Häuser aus Lehm und Steinen, alle mit Stroh gedeckt. Im Laufe der Jahre entstanden neben den beiden Kirchen der katholischen und der lutherischen Gemeinde auch zwei Schulen.
Die Landwirte mussten sich zuerst mit den neuen Umständen von Klima und Boden vertraut machen. Darüber hinaus wurde das Dorf von Krankheiten und Heuschreckenplagen heimgesucht, weshalb einige Auswanderer in den ersten Jahren nach der Ansiedlung starben. Aber nach und nach wandelte sich die Situation zum Besseren: Weizenanbau, Viehzucht sowie später Obst- und Weinbau brachten Erfolg. Am Bach entstanden zwei Mühlen, die Siedlung wuchs, man konnte Land dazukaufen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten, die durch Missernten verursacht wurden, war das Klima der Halbinsel ideal für den Anbau von Wein. Bis heute hat sich eine rote Rebsorte erhalten, die den Namen „Kronental“ trägt. Rund um das Dorf gab es genügend Weidefläche zur Schafzucht. Daher kauften die Kolonisten bereits 1817 zwei spanische Schafböcke zur Verbesserung der Schafzucht, 1818 hatte man bereits eine gemeinschaftlich betriebene Schäferei.
Kronental profitierte – wie auch die anderen Kolonistendörfer, die allesamt vom Militärdienst befreit waren – vom Krimkrieg (1853 – 1856), weil man der russischen Armee Lebensmittel verkaufen und mit dem Gewinn weiteres Land erwerben konnte. Die Nachfahren der bettelarm ausgewanderten Mühlhausener waren zu wohlhabenden Bauern geworden, viele beschäftigten russische Knechte und Mägde. Schon bald galt Kronental neben dem Schweizer Zürichtal als eine der wohlhabendsten und vornehmsten Siedlungen der zahlreich gewordenen deutschen Kolonien auf der Krim.
Sehr eindrucksvoll skizziert der estnische Schriftsteller Eduard Vilde im Jahre 1904 ein Bild von Kronental: „Die große Siedlung Kronental bietet mit ihren hübschen dickbauchigen Steinhäusern und ihren breiten Straßen vielmehr die Ansicht einer kleinen Stadt oder einer größeren Ortschaft als eines Dorfes. Die Obstgärten um die Häuser und die breiten Weinberge an den Berghängen und Anhöhen um die Siedlung herum verleihen Kronental das Aussehen einer rheinischen Ortschaft. Hier wohnen wohlhabende Menschen – dies war bald festzustellen, nachdem wir in der Hauptstraße entlang in der Ortschaft angekommen waren. Nicht nur große, oft zweistöckige Steinhäuser mit hübschen Veranden und Treppen, zahlreiche geräumige Geschäfte, sondern auch das gepflegte Aussehen der Gebäude sowie die überall herrschende Sauberkeit und Ordnung zeigte mir: Die badische Art und Weise der Ortschaft ist gleich zu spüren.“
Nicht verschwiegen werden soll das tragische Ende der Kronentaler. Da die Bauern sehr erfolgreich wirtschafteten, bekamen auch sie die unterdrückenden Maßnahmen gegen die vermeintlichen „Kulaken“ zu spüren. Die russische Revolution, der Bürgerkrieg, die Umwandlung von Kronental zur Kolchose „Deutsche Kameraden“ und schließlich die Zwangsumsiedlung der Kronentaler am 18. August 1941 beendeten den Traum fern der Heimat. Die Gebäude und Friedhöfe verfielen und nur wenige Spuren erinnern heute noch an die Badener von Kronental, so ein Erinnerungsstein mit der Inschrift:
„1810 – 1811 WURDE DEUTSCHE KOLONIE KRONENTAL VON AUSWANDERERN AUS DEUTSCHLAND GEGRÜNDET. AM 18. AUGUST 1941 WURDEN 61000 DEUTSCHEN MIT IHREN FAMILIEN-ANGEHÖRIGEN AUS DER KRIM DEPORTIERT“.
Der Ortsname Kronental wurde 1945 in Koltschugino (heute Kolchuhyne) umgewandelt.
Autor
Rudi Kramer Geiersbergstrasse 7 69242 Mühlhausen