Hand und Kopf

Aus phenixxenia.org
Zur Navigation springen Zur Suche springen


Es muß Arbeit mit den Händen getan werden; sonst könnte keiner von uns leben. Es muß Arbeit mit dem Gehirn getan werden; sonst würde unser Leben nicht lebenswert sein. Und dieselben Menschen können nicht beides tun. Es gibt rauhe Arbeit zu tun, und rauhe Männer müssen sie verrichten; es gibt edle Arbeit zu tun, und die Vornehmen müssen sie vollbringen; und es ist physisch unmöglich, daß eine Klasse die Arbeit der andern tun oder teilen könnte. Es nützt nichts, diese traurige Tatsache durch schöne Worte verbergen zu wollen und dem Arbeiter von der Ehre harter Arbeit und der Würde der Menschheit zu sprechen. Rauhe Arbeit, ehrenwert oder nicht, entzieht uns das Leben. Der Mann, der den ganzen Tag Lehm aus einem Graben ausgeworfen oder die Nacht hindurch einen Eilzug gegen den Nordwind geführt öder im Sturm das Steuerruder eines Kohlenschiffs gehalten oder am Schmelzofen weiß-glühendes Eisen gewirbelt hat, ist am Ende des Tages oder der Nacht nicht derselbe Mensch wie einer, der in einem stillen Zimmer, wo alles um ihn her behaglich war, gesessen und Bücher gelesen, Schmetterlinge klassifiziert oder Bilder gemalt hat. Wenn es auch tröstlich ist, zu hören, daß die rauhe Arbeit von beiden die ehrenhaftere ist, sollte es mir leid tun, euch das bißchen Trost zu nehmen, und in gewissem Sinne brauche ich es nicht. Die rauhe Arbeit ist auf jeden Fall wirklich ehrlich und im allgemeinen, obwohl nicht immer, nützlich; während die feine Arbeit zum großen Teil ebenso törichtund falsch, wie fein, und daher entehrend ist. Wenn aber beide Arten der Arbeit gleich gut und würdig getan werden, so ist die Kopfarbeit die edle und die Handarbeit die niedere. Die alten Worte "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen" zeigen an, daß jegliche zum Unterhalt des Lebens notwendige Arbeit ihrer eigenen Natur nach eine Widerwärtigkeit ist, und daß der um unsertwillen verfluchte Erdboden einen Schatten der Erniedrigung über unsern Kampf mit seinen Dornen und Disteln wirft.

Quelle

The Crown of Wild Olive, John Ruskin, 1866-1869 (Übersetzung von Maria Kühn, 1910).